Vorwort Dr. Bettina Greiner
Harald Beer schickte mir seinen Erinnerungsbericht Schreien hilft dir nicht Anfang Oktober 2010. Nach fast einem Jahr der freudigen Rückbesinnung auf Mauerfall und Wiedervereinigung vor 20 Jahren, erinnerte er mich mit seinem Buch daran, dass der untergegangene Staat nicht allein von seinem glücklichen Ende her zu betrachten ist. Auch die Gewalt, auf der er gegründet wurde, gehört zum Verständnis dazu – womit genau der Ort benannt ist, an den Harald Beer seine Leser führt: Aus eigener Erfahrung schildert er die unerbittliche Härte, mit der in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR angebliche Feinde verfolgt und zu Verbrechern gestempelt wurden.
Harald Beer war kein Widerständler, kein Oppositioneller, er war nicht »politisch«. Er war einfach nur ein 17-Jähriger, der im November 1946 auf dem Weg von Berlin nach Essen in Zarrenthin, in der sowjetischen Zone nahe der »grünen Grenze«, einige Tage Rast einlegte. Einer ihm unbekannten älteren Frau zeigte er den Weg in die britische Zone, er begleitete sie nicht einmal auf die andere Seite der Grenze. Und doch wurde er noch in der Nacht durch deutsche Polizisten verhaftet und an den sowjetischen Geheimdienst NKWD übergeben. Zum Dank hatte ihm die Frau eine Zigarette geschenkt – nun Beweisstück einer angeblich professionellen Schleusertätigkeit. Fünf Wochen später wurde Harald Beer durch ein sowjetisches Militärtribunal zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und in eines der Speziallager des NKWD in der Besatzungszone eingewiesen. Im Januar 1950 wurde er vorfristig aus dem Lager Sachsenhausen im Norden Berlins entlassen.
Anfang Oktober 1961 findet sich Harald Beer in einer ähnlichen Situation wie im November 1946: Wieder bittet ihn eine ihm unbekannte Frau um Hilfe beim Versuch, in den Westen zu gelangen. Sie spricht ihn auf einem Rastplatz entlang der Transitstrecke an, Beer ist auf dem Heimweg von Berlin nach Nürnberg: ob er sie im Kofferraum seines Autos mit nach Westdeutschland nehmen könne? Aus Wut und auch aus Hilflosigkeit über den Mauerbau gute sechs Wochen zuvor sagt Harald Beer spontan zu. Doch die Flucht scheitert, beide werden verhaftet und verurteilt – die junge Frau wegen versuchter Republikflucht zu 15 Monaten, Harald Beerwegen Anstiftung zur Republikflucht – nach damaligem Verständnis ein Staatsverbrechen – zu drei Jahren Gefängnis. Er hat Glück und wird im Mai 1963 in die Bundesrepublik »freigetauscht«.
Beides sind Geschichten aus einem geteilten Land. Harald Beer erzählt sie als Historiker in eigener Sache – nüchtern im Ton und überaus zurückhaltend hinsichtlich der eigenen Empfindungen. Schreien hilft dir nicht ist der Versuch einer möglichst minutiösen Rekonstruktion der Jahre in sowjetischem und ostdeutschem Gewahrsam, für die Harald Beer nicht nur aktuelle Sekundärliteratur ausgewertet hat. Er hat auch selbst Quellenstudien betrieben und bisher unbekannte Dokumente aus dem Russischen ins Deutsche übersetzen lassen. Es geht ihm also bei der Niederschrift seiner Erinnerungen weniger um das eigene Verstehen. Stattdessen memoriert und dokumentiert er diese Geschichte für uns, seine Leser, die zu <Mitzeugen> der Zustände in den Speziallagern und der DDR-Haft werden sollen. Auch wenn die DDR mehr war als die Gewalt, auf der sie gegründet wurde – ohne diese Gewalt ist sie nicht zu verstehen. Deshalb wünsche ich Harald Beers Buch viele Leser.
Berlin im Dezember 2010
Bettina Greiner